Ich möchte eine Geschichte erzählen, die sich im heutigen Bulgarien abspielt.
Es ist vielleicht 300, 400 Jahre her. Es ist eine wunderschöne Gegend, eine Hochebene. Das ganze Gebiet liegt auf 800 bis 900 Metern, leicht hügelig. Eine sehr nährstoffreiche Gegend, ein nährstoffreicher Boden.
Die Pflanzen wachsen, alles, was man aussät, gedeiht. Im Sommer ist es angenehm warm bis hin zu heiss. Und im Winter gibt es auf dieser Höhe auch Schnee, teilweise sogar sehr viel.
Dort leben in einem Dorf ein Mann und eine Frau. Sie haben geheiratet, sie lieben sich unendlich, aber sie sind kinderlos.
Ihr grösster Wunsch ist es, ein Kind zu haben. Einige Jahre vergehen, und sie versuchen es immer wieder, doch sie sind nicht vom Glück beseelt. Schliesslich haben sie sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sie keine Kinder haben werden.
Also konzentrieren sie sich auf ihre Arbeit: Der Mann auf seine Arbeit – er ist Keramikmeister – und die Frau auf den Haushalt und den Garten.
Sie lässt alles gedeihen und gibt all ihre Liebe in den Haushalt und in den Garten. Dasselbe macht der Mann. Die Liebe, die er einem Kind nicht geben kann, fliesst in die Keramik, in die Töpferei, die sie dort im Dorf herstellen.
Das Dorf ist sehr bekannt, man könnte sogar sagen, weit über die Grenzen des Landes hinaus. Es ist berühmt für seine sehr schönen Keramik Kreationen.
Eines Tages, es ist ein Samstag, fahren beide wie immer mit ihrem Ochsengespann auf den Markt und verkaufen dort ihre Waren: Die Frau ihre Naturprodukte – Gemüse, Mehl, alles, was sie selbst hergestellt hat. Und der Mann seine Töpfereien und Keramikkreationen.
Es ist bereits dunkel, als sie auf der Heimfahrt mit dem Ochsenwagen ihrem kleinen Dorf näherkommen. Ganz in der Nähe des Dorfes muss der Wagen angehalten werden, weil sich vorne bei den Ochsen etwas gelöst hat. Der Mann steigt vom Wagen ab, geht nach vorne zum Gespann und richtet etwas am Kopf des einen Ochsen. Ein Lederriemen hat sich gelöst.
Während er das Geschirr richtet, ist es ganz still im Wald. Da hört die Frau ein leises Weinen irgendwo aus den Büschen. Sie ist sich nicht sicher, ob es eine Katze ist oder ein kleines Kind, ein Baby. Sie macht ihren Mann aufmerksam und sagt: „Hör doch, da ist etwas – lass uns nachschauen.“
Beide durchsuchen gemeinsam die unmittelbare Gegend am Rand des Weges. Auf der linken Seite finden sie ein kleines Baby, das ausgesetzt wurde und weint. Da sie sich schon so lange ein Kind wünschen, öffnen beide sofort ihr Herz.
Selbstverständlich nehmen sie das Kind mit nach Hause. Sie wissen, dass es nicht ihr eigenes ist und dass sie es nicht behalten können. Am nächsten Tag gehen sie mit dem Kind zum Dorfältesten und fragen um Rat.
Es wird eine Sitzung einberufen, und die Dorfältesten entscheiden nach längerer Beratung, dass das Paar dieses Kind behalten und grossziehen darf. Es ist ein Mädchen. Das Mädchen ist leicht behindert – es kann nicht gut laufen und hat auch an den Händen eine Behinderung.
Der Mann und die Frau schliessen das Kind sofort in ihr Herz, und von nun an ist es ihr Kind, ihr grosser Sonnenschein.
Alles setzen sie daran, dass es gut aufwächst. Im Sommer gehen beide mit dem Kind auf den wunderschönen Wiesen laufen – das wirkt wie eine Therapie. Mit der Zeit kann das Kind auch besser gehen.
Im Winter sitzt das Mädchen oft neben dem Vater, während dem er seine Töpfereien herstellt. Für den Vater ist das Kind sein Sonnenschein – egal, ob draussen die Sonne scheint oder nicht. Er gibt dem Mädchen Lehm, damit es kleine Formen töpfern kann.
Das Mädchen wächst heran, und die Arbeit in der Töpferei wirkt wie eine Art Therapie. Mit den Jahren lernt es besser zu laufen, und auch seine Hände werden besser, geschickter, fast normal. Für die Familie ist das Mädchen das grösste Glück. Sie sind überglücklich, dass sie damals dieses Kind im Wald von Busintsi gefunden haben.
So leben sie in grossem Glück in dieser wunderschönen Gegend mit diesem Mädchen – einem Kind, das sie nicht selbst gezeugt haben, dass ihnen aber von Gott, vom Universum geschenkt wurde.
Ich bedanke mich für diese Geschichte – DANKE.
(Mein damaliges ich war der Mann in dieser Geschichte. Mein heutiger Ehemann war damals meine Frau. Wir verbrachten mehrere Leben dort an diesem Ort (Busintsi) – nicht immer als Paar.)
Sibylle Emilie Windisch, September 2025
